Zeitordnungen spielen für den Zusammenhalt von sozialen Gruppen wie der mittelalterlichen Universität eine entscheidende Rolle. Sie sind individuell verhandelte Konstruktionen und dienen in ihrer Form als Symbolträger (Elias 1988, 11) 1. zur Organisation und Koordination von Handlungen in und durch die Gruppe (Schäfers 1997, 141–143) sowie 2. zur „Aktivierung, Semiotisierung und Übertragung von Identitätswissen“ (Schmidt 2000, S. 54). Eine eigene Zeitlichkeit erhält die Universität aber nicht durch einen Kalender, sondern durch die Begehung der in ihm festgehaltenen Gruppenzeiten. In dieser Begehung vollzieht sich das kalendarische Erinnern; es wird kulturelle Identität produziert (Assmann 1988, 13). Weil die Frage nach dem Ursprung des „korporativen Gemeinsinns“ (Boiraud 1971, 50) der Universitäten in der Fest- und Freizeitgestaltung seit langem beantwortet zu sein scheint, ist ihre kulturelle Identität bisher nicht in den Blickpunkt der Forschung geraten. Überhaupt ist das „akademische Jahr“ sowohl von der allgemein-historischen als auch von der universitätsgeschichtlichen Forschung bisher nur am Rande behandelt worden. Universitäts- und Fakultätskalender werden im aktuellen Diskurs oft nur als Fest- und Ferienkalender wahrgenommen, die „den Lehr- und Lernbetrieb erträglich zu gestalten“ vermochten. Bis zum 15. Jahrhundert sei das Studienjahr von den „ordentlichen Vorlesungen“ bestimmt gewesen – die Vielzahl der Sonn- und Feiertage mit ihren Festlichkeiten, Gottesdiensten und Prozessionen hätten lediglich der Entspannung und dem Amusement gedient (Schwinges 2003, 24–25).
Das Vorhaben nimmt daher erstmals systematisch Kalender und Zeitpläne mittelalterlicher Universitäten und Fakultäten als individuelle Zeitkonstruktionen sozialer Gruppen in den Blick. Das akademische Jahr wird dabei als institutionalisierte und objektivierte Form verstanden, die für die Identität dieser Gruppen konstitutiv war. Ausgangspunkt der Überlegungen ist die These, dass Kalender nicht nur zur Verständigung zwecks Terminabsprache und zur Zeiteinteilung von Jahr und Monat dienen, sondern aufgrund der speziellen Auswahl bestimmter Zeitpunkte und der Kreation verschieden langer Zeiträume auch ein Gemeinschaft stiftendes Sinnzentrum für Kulturen darstellen.
Die Untersuchung soll in drei Schritten erfolgen: Zunächst werden die Genese des akademischen Jahres in Paris und dessen Adaption in England und im Römischen Reich durch Fallstudien zu Oxford, Cambridge, Heidelberg und Wien untersucht. Dabei sollen sowohl die Herkunft der ursprünglichen formalen Elemente des Kalenders und deren Urheber oder Vermittler als auch spätere Ergänzungen und deren Entstehungszusammenhänge ermittelt werden. Darauf bezogen sollen im Anschluss anhand von universitären Akten die praktische Umsetzung der kalendarischen Vorgaben durch Feste und Unterricht betrachtet werden. Auf diese Weise werden der Ordnungs- und Stabilisierungsleistung sowie der identitätsstiftenden Wirkung des akademischen Jahres für die universitären Gemeinschaften und den Praktiken seiner Inszenierung durch diese nachgegangen. Für die Fallstudien wurden Universitäten gewählt, die über eine reichhaltige und über einzelne Kalendarien hinausgehende Überlieferung zum Untersuchungsgegenstand verfügen. Daher eignen sich diese besonders für einen analytischen Vergleich, der die unterschiedlichen Zeitpraktiken zwischen Universitäten und Fakultäten sowie zwischen Universitäten mit engeren oder loseren Verflechtungen berücksichtigt und so mögliche Traditionslinien aufdeckt. Abschließend soll der Untersuchungsraum auf weitere französische, deutsche, aber auch spanische und italienische Universitäten erweitert werden, um anhand statutarischer Vorschriften und Akten deren Zeitordnungen zu rekonstruieren und vergleichend in die Untersuchung einzubeziehen.
Im Schnittpunkt von Historischer Chronologie, Geschichtswissenschaft, Historischer Anthropologie, Kulturphilosophie, Theologie und Liturgiewissenschaft angesiedelt, versteht sich das Vorhaben als interdisziplinärer Beitrag zur aktuellen Debatte um die Gelehrtenkultur der Vormoderne. Zugleich wird damit die Absicht verfolgt, die aktuell als „grassierend“ postulierte Struktur- und Identitätskrise der europäischen Universitäten aus historischer Perspektive kritisch zu beleuchten – in Bezug auf den Bologna-Prozess (Vereinheitlichung und Straffung des akademischen Jahres) und die Übernahme von Konzepten und Strategien zur Identitätsbildung aus der Wirtschaft (sog. Corporate Identity).